5. Ablösung

Was ich zu diesem Zeitpunkt unterschätzte, war die beständige Wirkung der Umgebung auf mich. Alle ca. 200 Leute „kämpften“ so ernsthaft, hingegeben und standhaft. Könnte es sein, dass wir alle auf dem falschen Dampfer waren oder lag mein Problem mit dem „geistlichen Kampf“ doch nur in mir selbst, dass ich mich in der Schule nur als außenstehender „Gast“ empfand, wiederholt den Unterricht schwänzen und einfach nur abhauen wollte? Das verunsicherte mich. 

Dazu kamen die geistlichen Szenerien, die mit kurzen einprägsamen Texten, oft in Liedform oft wiederholt proklamiert wurden und sich bei mir bildhaft einprägten. Mein Weltbild wurde dadurch immer mehr von dunklen negativen "weltlichen" oder "satanischen" Kräften geprägt, die es „in der Kraft des Herrn“ mit „der Waffenrüstung Gottes“ zu bekämpfen gälte, indem wir beständig seinen Sieg proklamierten, seine Größe lobten und den Heiligen Geist anriefen, über uns zu kommen und Erweckung nach Deutschland zu bringen.

Die „Welt“ außerhalb der Schule schien mir immer dunkler und bedrohlicher zu werden und das Schulgelände wurde für mich immer mehr zu einer Zufluchtsstätte, einer „Oase des Lichts“ mitten in einer "immer dunkler werdenden Welt". Nach einiger Zeit fühlte ich mich „draußen“, z.B. beim Einkaufen in der Stadt, immer fremder und bedrückter und mochte das Schulgelände gar nicht mehr verlassen. Anderen fiel das kaum auf, da ich auch nur selten „raus“ musste. Essen, wohnen, schlafen, Veranstaltungen besuchen … alles war auf dem Schulgelände möglich und im angrenzenden Wald konnte ich Sport treiben und mich entspannen. Wozu also noch in die Stadt gehen? Dadurch wurde ich immer „weltfremder“.

Ein anderer Einfluss, der mich zusätzlich verunsicherte, waren einige rhetorisch sehr begabte Redner, die auf den Veranstaltungen zum Teil hypnose-induzierende Techniken anwendeten und die Wirkungen, die sie auf manche Teilnehmer hatten, als „Kraft des Heiligen Geistes“ beschrieben. Dies beeindruckte mich anfangs tief, später verunsicherte es mich immer mehr. War es wirklich der Heilige Geist, der diese „Manifestationen“ hervorrief?

Da ich schon vorher in anderem „weltlichen“ Rahmen mit tranceinduzierenden Hypnose-Phänomenen, auch Musik-Meditation, zu tun gehabt hatte, die recht ähnlich eingeleitet und durchgeführt wurden, war ich mir über die Kraftquelle dieser Phänomene nicht sicher. Natürlich wollte ich den Heiligen Geist „nicht betrüben“ und betete an solchen Veranstaltungen immer wieder: „Herr, wenn das von dir ist, möchte ich das auch erleben, sonst nicht.“ Während der ganzen Zeit erlebte ich dann in solchen Veranstaltungen oft ein friedliches Gefühl, war aber nie „überwältigt“, „erschlagen“ oder sonst irgendwie extrem berührt. Einmal wollte mich ein Redner beim Gebet mit sanftem Druck zum Umfallen bringen, was ich aber nicht zuließ und ihm „widerstand“. Aber sonst haben mich diese dominant auftretenden, oft witzigen redegewandten Redner schon beeindruckt, weil sie so „stark“ schienen. 

All dies hatte Effekte auf mich: Durch die hohe Informationsdichte während der Unterrichts- und Veranstaltungszeiten und die wenige Zeit, über alles nachzudenken und anhand der Bibel zu prüfen, nahm ich unbemerkt immer mehr der Aussagen dieses Lehrsystems in mir auf. Es wurde ja meiner Erinnerung nach nicht dazu angeregt, die Lehrinhalte zu prüfen und dabei auch kritische Gedanken zu äußern oder miteinander zu erörtern.

Innerlich entstand in mir immer mehr das Weltbild einer düsteren, von Dämonen beherrschten feindlichen Welt, die durch unsere „geistliche Kampfführung“ freigebetet werden musste. Das schien mir eine unendlich schwere Mammut-Aufgabe, die mir zwar anfangs Spaß machte, mir aber zunehmend laut, seltsam, ermüdend und später immer langweiliger und monoton erschien. Außerdem schien es auch keine wirklichen Erfolge zu geben - außer den Aussagen der geistlichen Leitung mit ihren Eindrücken von „Durchbrüchen“ in der geistlichen Welt, die ich aber nicht nachvollziehen konnte.

Die ersehnte "Herrlichkeit Gottes" erlebte ich irgendwie nie so richtig, auch wenn andere wiederholt davon sprachen, wie „gesalbt“ eine Lobpreiszeit gewesen wäre. Innerlich fühlte ich mich immer isolierter. Einerseits war ich nicht richtig in die Gemeinschaft der Schule integriert, aber auch die Außenwelt schien mir nur noch düster und bedrohlich. Mehr und mehr zog ich mich in die Nische des Tanzens zurück und wurde dort in Ruhe gelassen, wusste aber nicht, wie es nach der Schulzeit weitergehen sollte.

 

6. Nach der Schulzeit

Als die Schulzeit dann beendet war und ich ängstlich und verzagt wieder zurück in die „Welt“ zog, war mir diese sehr fremd geworden. Ich versuchte wieder, in meiner Kirchengemeinde Fuß zu fassen, vermisste aber sehr die gewohnten Strukturen der Schule, vor allem die täglichen Musik- und Tanzzeiten. Nun fühlte ich mich sehr einsam und auch CDs mit „Lobpreismusik“ konnten dies nur wenig lindern. Andererseits war ich sehr stolz auf meine Ausbildung zum „geistlichen Kämpfer“ und glaubte, nun mehr Einblicke in die geistliche Welt zu haben als die meisten der übrigen Gemeindemitglieder.

Da ich es gewohnt war, laut, ausdrucksstark, bunt und proklamierend zu beten, fühlte ich mich „vollmächtiger“ und „kühner“ als die übrigen Gemeindemitglieder, die dies leise und zurückhaltend zu tun gewohnt waren. Heute ist mir das sehr unangenehm, wie stolz und arrogant ich zu dieser Zeit gedacht und mich ihnen gegenüber verhalten habe. Dadurch verstärkte ich außerdem die innere Distanz zu ihnen und wurde noch einsamer. 

In der Folgezeit besuchte ich hin und wieder Veranstaltungen der Schule und fühlte mich kurzfristig wieder „zuhause“ und „frei“. Nur dort schien mir ein „offener geistlicher Himmel“ zu sein, eine Oase inmitten einer "dunklen Welt" und einer „unerweckten fleischlichen“ Gemeinde. Hier konnte ich "geistlich auftanken". 

Dabei merkte ich nicht, wie stark geprägt und abhängig ich bereits von dem "charismatischen“ System geworden war. Anderen Christen gegenüber hatte ich eine sehr arrogante Haltung und war sehr anfällig für die schmeichelnden, manipulativen und einschüchternden Techniken dominanter "charismatischer" Redner, die ich damals so sehr bewunderte. Gern wollte ich so "kühn und vollmächtig" werden wie sie.

 

Hätte nicht ein "apostolisches" Team solcher Redner es etwa ein Jahr nach Verlassen der Schule wirklich versucht, mich zu solcher Dominanz und solchen Techniken zu coachen, und hätten sie nicht an einem Punkt meinen gefühlten Bogen überspannt, hätte ich vielleicht den Ausstieg aus dieser Szene gar nicht geschafft. Mit ihrem extremen, dominant und arrogant wirkenden Verhalten führten sie mir drastisch vor Augen, auf welchem Weg ich bereits war und wie meine geistliche „Karriere“ möglicherweise weitergehen würde. Das schockierte mich so sehr, dass ich daraufhin den Kontakt zu ihnen abbrach und mich von der charismatischen Szene zurückzog.

 

7. Ausstieg

Es begann ein harter und einsamer mehrjähriger Prozess, wo ich mich mithilfe von Bibel, Internet-Artikeln und anderen Christen mit verschiedenen Sonderlehren der charismatischen Szene und tranceinduzierenden Techniken samt ihrer Wirkungen auseinandersetzte und glücklicherweise immer mehr Abstand gewann. 

Darunter war die Wort-des-Glaubens-Bewegung mit den Proklamationen der Identität in Christus, dem „Binden“ und „Lösen“ und „in Existenz sprechen“, die Lehre der "geistlichen Kampfführung", die Lehre zur Bedeutung des „Lobpreises“ und der sog. „Hütte Davids“, den „Manifestationen“, dem „Sprachengebet“ als „geistlich stärkend“, und anderen Themen. 

Inzwischen ist dieser Ablösungsprozess nicht mehr so aktiv und intensiv. Ich habe zu vielem einen Standpunkt gewonnen und halte mich von der Szene fern, versuche aber auch, Positives, das ich während dieser Zeit auch erlebt habe, nicht aus dem Blick zu verlieren. Trotzdem bin ich gegenüber religiösen Veranstaltungen aller Art sehr skeptisch geworden.